Kapitel 18


2004-7-6

Eigentlich ist es ganz einfach gewesen. Sie hat Daphne ganz genau die Lichtung mit dem Bach beschrieben, und schon ging es los. Nach nicht einmal zehn Minuten Fußmarsch waren sie direkt neben dem kleinen Bach. Luci hat sich noch einmal herzlich bei Daphne bedankt, sie kräftig an sich gedrückt, und schon war die Dame wieder im Wald verschwunden. Nun steht sie hier, und es scheint wieder einmal später Vormittag zu sein. Nach der Sonne sollte man hier wohl besser nicht navigieren. Schnell findet Luci ihr Kleiderbündel, genau da, wo sie es hat liegen lassen. Da sind auch noch die Hufspuren. Nein, für jetzt erstmal genug davon. Auch wenn das Einhorn anscheinend tatsächlich in Gefahr ist. Jetzt erstmal zurück in die wirkliche Welt. Und was zu essen. Schnell schlüpft sie wieder in ihre eigenen Sachen und schnürt die Schuhe. Ihr Sonnenbrand ist völlig geheilt. Diese Kräuterbäder sind wundervoll! Den Mantel wickelt sie zusammen und versteckt ihn unter dem großen Findling am Bach. Diesen Weg entlang, dort zwischen den Bäumen, da ist die alte Eiche. Wieviel Zeit wohl vergangen ist?

Luci zögert noch ein bißchen. Darauf gefaßt sein macht es auf keinen Fall einfacher. Der letzte Schritt, an der alten Eiche vorbei. Unter ihren Schuhen knirscht der Schotter. Es ist Nacht, aber relativ hell. Über ihr scheint der Vollmond durch die Wolken. Um sie herum ist alles still. Nur ein paar leise Geräusche der Nacht. Lucis Magen meldet sich grollend. Also erstmal zum Gemeinschaftshaus. Erstmal feststellen, wieviel Zeit vergangen ist. Ob sie vermißt wird. Außerdem ist dann noch etwas Zeit, bis sie sich mit ihren Eltern befassen muß. Besser erst genau Bescheid wissen. Der Weg zwischen den Bäumen wirkt im fahlen Mondlicht gespenstisch. Irgendwie scheinen die Schatten lebendig zu sein. Die Luft ist hier deutlich kühler, Luci friert ein bißchen in ihrem T-Shirt. Da ist der flache Bau des Gemeinschaftshauses. Der Kiosk ist verlassen, die Gitter vor den Fenstern sind unten. Von außen ist kein Lebenszeichen, kein Licht zu sehen. Nur aus dem Kamin steigt eine dünne Rauchsäule auf. Luci drückt die Eingangstür auf, die sie noch nie geschlossen gesehen hat. Der große Saal ist fast völlig dunkel. Nur ein schwaches Leuchten geht vom offenen Kamin aus. Dort glimmen einige Scheite schwach vor sich hin und tauchen einige weiche Felle in dem Bereich unmittelbar vor dem Kamin in ein rötliches Licht. Dieser Lichtkreis strahlt eine sehr behagliche Atmosphäre aus. So richtig der Platz, um mit seinem Liebsten ein bißchen zu träumen. Luci fühlt sich auf einmal sehr einsam. Ein ihr unverständliches Sehnen durchfährt sie vom Scheitel bis zur Sohle. Schnell geht sie auf die Tür zum Speisesaal zu, den Lichtkreis vor dem Kamin vermeidend. Durch die Tür, und wieder ist Luci für Augenblicke von dem Kontrast gebannt. Kaltes Mondlicht fällt durch die hohen Fenster. Wieder entsteht der Eindruck einer Kathedrale. Eine kalte, fast schon körperlich spürbare Stimmung geht von dem Licht aus. Der Saal scheint völlig verlassen, auf der Theke liegt ein einsames, abgegriffenes Taschenbuch. Nur in einer der hintersten Ecken des Speisesaals sitzt eine einzelne Person zusammengesunken an einem Tisch und kehrt ihr den Rücken zu. Weite, schwarze Kleidung ist gekrönt von einem Schopf langen, auffällig weißem Haar. Die Gestalt wirkt jugendlich, soweit Luci das von hinten beurteilen kann. Leise nähert sie sich, unsicher, ob sie die Person ansprechen soll. Ihr ist jetzt einfach nicht danach, alleine zu sein, und vielleicht geht es der zusammengesunkenen Gestalt ähnlich.

"Darf ich mich zu dir setzten? Oder willst du ungestört bleiben?"

"Setz dich ruhig. Leiste mir Gesellschaft. Vielleicht kannst du mir die Zeit versüßen, bis der Tag anbricht und ich die Unmöglichkeit meines Vorhabens einsehen muß."

Er sieht nicht auf, als Luci sich links neben ihn setzt. Der Kopf ruht von ihr abgewandt auf seinen Armen, die er auf die Tischplatte gelegt hat. Seine Stimme scheint gebrochen, straft die Hoffnung in den Worten Lügen. Luci bemerkt überrascht eine Schwertscheide an seiner Linken. Der Knauf der Waffe ist reich verziert und glitzert kalt im Mondlicht. Von den weißen Haaren nur halb bedeckt, ein leicht zugespitztes Ohr.

"Was ist das für ein Vorhaben?"

"Ich suche einen Traum. Ich jage einem Bild nach, einem Gespinst aus meinem Kopf. Und kann es nicht finden. Denn ich kann nicht dort hingehen, von wo das Bild kommt. Es ist ein Bild aus einer Welt, die nicht die meine ist. Also suche ich, die Grenzen zu durchstoßen. Maran sagt mir, daß ich die eine letzte Grenze, die meine Art nie lebend übertreten kann, schon mehrmals überschritten habe. Daß meine Träume von dieser anderen Seite stammen. Doch immer kehre ich ohne Erinnerung in meine Welt zurück. Und jedesmal ist mein Sehnen noch stärker als zuvor. Ein Sehnen, so stark, daß mir meine eigene Welt fremd vorkommt. Also bat ich Maran um Rat. Er hat mir empfohlen, das Verbotene zu tun und die Welt der Sterblichen zu besuchen. Doch nun bin ich hier und bin nur noch verwirrter als zuvor. Deine Welt ist gefährlich für mich. Für mich, Prinz Druhn von der Dunklen Seite, oberster Jagdherr am Hofe meiner Mutter, der Herrin der Nacht! Gefährlich, weil ich sie nicht verstehe. Der Mond wandert über den Himmel, während ich hier sitze, obwohl ich an einem Ort verweile. Hier sitze ich und berichte dir von meiner Furcht, wo normalerweise du vor mir erzittern müßtest..." Seine Stimme erstirbt in unsichtbaren Tränen, nur ein leises Schluchzen ist zu hören.

"Ich würde dir gerne helfen, wenn du mir sagst, wie ich kann." Luci streckt ihre Hand aus, um ihn tröstend zu berühren.

"Du?" Plötzlich springt er von seinem Stuhl auf und funkelt auf sie herab, die Rechte am Schwertknauf. "Was willst du dir anmaßen? Was kannst du mir schon helfen, Sterbliche? Weiche von mir, bevor ich dein kostbares Blut auf diesen Boden hier vergieße!" Mit einem eleganten Schwung hüllt er sich in seinen Umhang und stürmt zur Tür hinaus. Luci sitzt noch lange völlig paralysiert da. Der Zorn in diesen Augen. Augen, so schwarz wie die Nacht, tief wie das Weltall.

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