Der Fang


2004-7-6

Der Asphalt des Highways liegt schon den ganze Tag unter der glühenden Sonne. Die Hitze läßt die Luft darüber zu einem silberenen, wabernden Spiegel werden.

Das schwarze Band der Straße erstreckt sich endlos in beide Richtungen, eingefaßt von einer Ödnis aus Sand und ein paar vereinzelten Kakteen.

In der einen Richtung führt der Highway direkt hinein in den glühenden Feurball der untergehenden Sonne, in der anderen Richtung liegt nur der einsame Punkt an den sich Himmel und Steppe treffen.

Nur ein verwitterter, umgeknickter Pfahl und ein verrostetes Stück Blech erinnern noch daran, daß hier eine Abzweigung von der Gleichtönigkeit weg führt. Ein längst vergessener Schotterweg, die letzten Reifenspuren hat der Wind schon vor Jahren mit sich davon getragen.

Auf dem Blech des Schildes thront glitzernde eine grüne Eidechse, und bildet wilkommene Abwechslung für das Auge. Nur das Fehlen der allgegenwärtigen Staubschicht auf ihren Schuppen weist darauf hin, daß hier auf dem heißen Metall ein lebendes Wesen sitzt. Die schwarzen Augen nur halb geschlossen, beobachtet es unbeweglich die Umgebung.

Was dieses Tier hier in dieser Hitze so intensiv beobachtet, kann der Betrachter nicht ergründen. Doch einen natürlichen Sinn für Dramatik scheint das kleine Reptil zu haben. Gerade beginnt die Aufmerksamkeit des Beobachters weiter zu wandern, als die Eidechse plötzlich mit wilden Sprüngen und zackigen Haken hinter irgend einem unbesehenen Insekt herjagt, bei jeder Wendung eine winzige Staubwolke aufwirbelnd.

Gerade hat dieses kleine Schauspiel begonnen, eine so willkommene Abwechslung von der drückenden Hitze des Abends, da wird es abrupt beendet. Das ungesehene Insekt ist wohl entkommen.

Nun allerdings besteht kein Zweifel mehr darüber, ob das Reptil tot oder lebendig ist. Platt wie eine ausgetretene Zigarette liegt es in einer frischen Reifenspur, staubig und aufgeplatzt. Fast könnte der Betrachter traurig sein über das Ende der willkommenen Ablenkung, wenn nicht etwas viel Aufregenderes nun seine gesamte Aufmerksamkeit erfordern würde. Ein großer silberner Wagen entfernt sich viel zu schnell entlang des Feldweges, als daß man einer toten Eidechse noch einen Gedanken schenken könnte.

Als der Staub sich endlich gelegt hat, ist sie schon längst vergessen, und nur ein paar Schmeißfliegen erfreuen sich an der unerwarteten Ergänzung ihres Speiseplans.

"Blöde Fliegen! Man sollte doch meinen, die hätten bei der Hitze was Besseres zu tun!"

Aber Malcom war ja auch auf der Straße, trotz Hitze und wider besseres Wissen. Schon seit Morgengrauen war er unterwegs, fast den ganzen Tag hatte er auf dem glühenden Highway verbracht. Als dann um neun oder zehn die Klimaanlage in seinem Mercedes ausgefallen war, hatte er es noch für ein böses Omen gehalten. Aber er hatte sich nicht entmutigen lassen, und war einfach weiter gefahren. Am Vormittag waren die Temperaturen ja auch beinahe erträglich. Malcom hatte das Fenster weit herunter gekurbelt, und an fast jeder sich bietenden Möglichkeit gehalten um sich mit einem kühlen Getränk zu erfrischen. Aber irgendwie hatte es nie wirklich gereicht um seinen Durst zu stillen, oder um die Hitze erträglicher zu machen. Und den Geschmack von Fliegen zwischen den Zähnen würde er wohl zeit seines Lebens nicht mehr ganz los werden, Seit dem frühen Nachmittag waren auch die Tankstellen für Mensch und Maschine immer seltener geworden. Zu dumm, daß er es versäumt hatte, sich bei der letzten Möglichkeit ordentlich mit Vorräten einzudecken. Seit ungefähr drei Stunden war seine Kehle nun trocken geblieben und nicht einmal Schwitzen konnte er mehr richtig. Malcom wünschte sich nichts sehnlicher, als ein kühles Bad, um den ganzen getrockneten Schweiß von seinem Körper zu spülen. Abgesehen vielleicht von einigen Litern kühlem Bier. Immer öfters erwischte er sich dabei, wie sein Geist ihm seine Hitzevisionen als Wahrheiten vorgaukelte. Malcom fühlte sich an die Geschichten von Wüstenreisenden erinnert, die er als Jugendlicher vor dem Kamin gelesen hatte. Er konnte sich noch genau an das Knistern des Feuers erinnern und die wohlige Wärme der Tasse Kakao in seiner Hand. Er konnte schon beinahe die Stimme seiner Mutter hören, wie sie in der Küche leise vor sich hin fluchte, und so eine ständige Geräuschkulisse für seine Jungenträume bildete. Noch heute spürte er die Spannung in der Luft und in seinen Knochen, wenn es wieder einmal auf den Abend zuging, und der Vater bald aus der Arbeit zurückkehren würde. Die ständige Spannung, noch diese Zeile zu lesen, nur noch diese eine, und doch noch rechtzeitig das Buch wieder in des Regal zu stellen und alle Spuren seiner Anwesenheit in der Bibliothek zu verwischen, rechtzeitig bevor der Vater hereinkam. Bevor er wieder das Regime antrat und seine eisernen Gesetze wieder in Kraft traten.

Ruckartig fuhr Malcoms Kopf zur Seite und er trat mit aller Gewalt auf die Bremse. Die Reifen quietschten laut und hinterließen zwei parallele Spuren auf dem glühenden Asphalt. Um ein Haar hätte er die Abzweigung schlicht übersehen. Ein paar Augenblicke hatte er damit zu kämpfen, den schweren Wagen wieder unter Kontrolle zu bekommen, dann hatte er schon zurückgesetzt, und fuhr vom Highway ab auf die kleine, ungeteerte Seitenstraße. Staub wirbelte in großen Wolken auf, und fand auch bald den Weg durch die offenen Seitenfenster. Malcoms weißes Hemd war bald kaum noch als solches zu erkennen. Staub und Schweiß machten aus der strahlenden Farbe schon bald in eine recht ungesunde. Der edlen Hose erging es nicht besser, und Malcom konnte sich bald kaum mehr daran erinnern, welche Farbe diese heute morgen noch gehabt hatte.

"Was tut man nicht alles, nur wegen einer vagen Prophezeiung und einem Traum!" Immer wieder waren Malcom im Laufe der letzten Woche Zweifel an seinem Vorhaben gekommen. Wer konnte schon wissen, ob der alte Mann recht gehabt hatte? Hatte er ihn angelogen? Kannte der Alte tatsächlich die Wahrheit über diese Dinge? Oder hatte er ihm nur das erzählt, was er für die Wahrheit hielt? War er vielleicht einfach auch nur auf den Scherz eines Sterbenden hereingefallen? Aber nun war er schon viel zu weit auf diesem Weg gegangen, um noch umzukehren. Das Amulett um seinen Hals und die Kanister in seinem Kofferraum hatten ihn nicht nur einige schlaflose Nächte sondern auch eine gute Stange Dollars gekostet, von seinem guten Ruf ganz zu schweigen. Nein, für Malcom gab es nur noch eine Richtung: geradeaus.

Der Beobachter blickt aus zwanzig Metern Höhe auf eine Geisterstadt, die Sonne ist inzwischen hinter dem Horizont versunken, nur noch das rote Leuchten des Abendhimmels beleuchtet die Szenerie. Die zerbrochenen Überreste einiger Häuser stehen sternförmig angeordnet um einen zentralen Platz. Oft sind nur noch die Fassaden vorhanden, manchmal auch Teile des Dachs, aber alle Ruinen zeigen deutliche Spuren von Feuer. Nur ein Haus, zentral am großen Platz gelegen, scheint völlig unversehrt. Sand hat sich in den Gassen zu hohen Verwehungen angehäuft. Hier und da sind auch schon einige Pflanzen heimisch geworden, und bilden zusammen mit den Überresten der Stadt ideale Verstecke für die Tiere der Steppe, für Jäger und Gejagte gleichermaßen. Manch ein Drama um Leben und Tod spielt sich hier sonst ab, an der Grenze zwischen Tag und Nacht. Aber das ist es nicht, was die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zieht. Außerdem ist es in den Schatten im Moment sowieso totenstill, seit der Große silberne Wagen mit lautem Gebrüll auf den zentralen Platz gerollt ist, und mit seinen leuchtenden Augen jeden Bewohner der Stadt in sein Versteck getrieben hat. Aber auch nicht der Wagen erregt das Interesse, nein es ist die Person, die aus ihm ausgestiegen ist, und die Aktivitäten, die sie entwickelt.

Der große silberne Mercedes steht nun still und dunkel auf dem großen Platz, alle Türen und die Heckklappe sind geöffnet. Ein verschwitzter Mann ist ausgestiegen, und hat damit begonnen, einige weiße Kleidungstücke aus einem Koffer auf dem Wagendach auszubreiten, nachdem er zuvor mit einem feuchten Tuch sorgfältig sein Gesicht und dann das Wagendach von Staub befreit hat. Nachdem er sich dann bis zur Unterhose entkleidet hat, beginnt er damit, den weißen Anzug anzulegen. Es ist ein junger Mann in seinen besten Jahren, mit athletischem Körperbau und gesunder, wenn auch etwas blasser Hautfarbe. Das dunkle Haar trägt er sportlich kurz, und im Gesicht sprießt ein zarter Eintagesbart. Insgesamt macht dieser junge Mann den Eindruck, als würde er ein recht zufriedenes und ausgeglichenes Leben führen. Das er seine Nächte häufig einsam verbringt scheint eher unwahrscheinlich.

Jetzt ist er fertig eingekleidet, komplett mit einem edlen, weißen Paar Schuhe und einem Gehstock. Kurz überprüft er noch einmal seine Erscheinung in dem Seitenspiegel des Mercedes, streicht sich unschlüssig über das Kinn, und geht dann mit einem nervösen Blick auf seine Armbanduhr zum Kofferraum des Wagens. Hier lehnt er zuerst seinen Gehstock an die Wagenseite, und hievt dann einen der drei Zwanzigliter Kanister heraus. Mit stapfenden Schritten trägt er diesen auf das große Haus zu, das als einziges direkt an dem zentralen Platz steht. An diesem Haus fällt etwas ganz besonders auf: Es ist das einzige, das völlig unversehrt ist. Alle Fensterscheiben sind intakt, und nirgendwo scheint sich Staub gesammelt zu haben. Auch die Farbe an den Wänden ist frisch und ohne Risse. Nach vorne hinaus hat das Gebäude eine große Veranda im Westernstil, komplett mit Schaukelstühlen und einem kleinen Tischchen, es fehlt eigentlich nur ein alter Mann mit Pfeife und Zeitung. Auch hier praktisch kein Sand. Auf dem großen Schild über der Eingangstür steht in hohen, bunten Lettern geschrieben: "Salon - Bar - Hotel".

Den Mann mit dem Kanister scheint der Zustand des Gebäudes jedoch nicht sonderlich zu interessieren. Vor der Eingangstür angekommen, schraubt er vorsichtig den Verschluß von dem Kanister. Dann beginnt er damit, den Inhalt auf den Sand zu gießen, in einem Abstand von einem halben Meter von der Veranda, und immer darauf bedacht, selbst nicht in Berührung mit der Flüssigkeit zu kommen. Sorgfältig zieht er so eine geschlossene Linie bis zur rechten Hausseite, diese dann entlang nach hinten, hier an der Rückwand entlang, vorbei an der Hintertür bis zur Hausecke, und von dort wieder nach vorne. Zuletzt bleibt vorne vor dem Treppchen zur Veranda nur ein achtzig Zentimeter breiter Streifen frei. Als er den Kanister zuletzt noch einmal ganz auf den Kopf stellt, fallen nur wenige Tropfen auf den Sand.

Zufrieden trägt er den leeren Kanister zum Auto zurück, und holt aus dem Kofferraum einen zweiten. Diesen trägt er zum Hinterausgang des Hauses, das auf Bodenniveau außer dieser Tür und der auf der Vorderseite keine weitere Fluchtmöglichkeit bietet. Nur im ersten Stock gibt es einige Fenster. Zielstrebig steuert er auf die Hintertür zu, um dann abrupt vor dem feuchten Streifen im Sand innezuhalten. Hätte er eine Hand frei, würde er sich jetzt mit der Rechten flach auf die Stirn schlagen. So aber schüttelt er nur resigniert den Kopf und macht einen möglichst großen Schritt, um nicht in den nassen Sand zu treten. Direkt vor der Tür stellt er den Kanister so in den Sand, daß man von Innen kommend über ihn hinweg steigen müßte. Eine Weile lang beschäftigt er sich nun intensiv mit etwas an der Oberseite des Behälters. Es sieht ein wenig wie ein Bündel roter Kerzen aus, die man durch einige Drähte mit einem kleinen schwarzen Kasten verbunden hat. Kurz darauf scheint er dann zufrieden mit dem Zustand von Kanister, Kerzen und Kasten, und macht sich wieder auf den Weg zu seinem Auto. Diesmal mit einem extra großen Schritt über die nasse Spur.

Bei dem silbernen Mercedes angekommen holt er noch weitere seltsame Gegenstände hervor. Zuerst einen weiteren Kanister, komplett mit Kerzen, Drähten und Kästchen. Dann ein einzelnes, etwas längliches Kästchen, das nach einer kurzen Überprüfung in einer Westentasche des Anzugs verschwindet. Zuletzt eine Rolle Seil und etwas, das nur ein Kassettenrecorder sein kann. Das Seil wandert nach einiger Überlegung jedoch wieder in den Kofferraum. Den Recorder unter den Arm geklemmt schleppt er dann den dritten Kanister auf die Veranda zu, genau durch die Lücke in dem feuchten Ring um das Haus. Mit sichtbarer Anstrengung schleppt er dann seine Last die drei Stufen zur Veranda hoch, und stellt den Kanister neben der Tür ab, darauf bedacht möglichst leise zu sein.

Es dauert eine Weile bis sich die Tür ohne Lärm öffnen läßt, obwohl sie nicht verschlossen ist. Den Fuß gegen die offene Tür gestemmt nimmt der Mann in dem weißen Anzug seinen Kanister wieder auf, und verschwindet mit einem letzten Blick zum gerade aufgehenden Mond im Inneren des Hauses.

Für den Beobachter gibt es hier im Freien nun bald nichts mehr zu sehen. Eine Weile noch ist das große silberne Auto interessant, das nun einsam auf dem Platz steht, alle Türen weit offen, das langsam abkühlende Metall knackt leise vor sich hin. Auch der Gehstock, der immer noch am hinteren Ende des Wagens lehnt, ist nicht uninteressant. Besteht sein Knauf doch immerhin aus echtem, massivem Silber, geformt wie der Oberkörper eines Menschen mit dem Kopf eines Widders. Doch auf Dauer ist auch das wenig aufregend, und die Aufmerksamkeit des Betrachters beginnt zu verfliegen, auf der Suche nach anderen Dingen, nach Geschehnissen. Vielleicht wird er ja später noch einmal hier vorbei sehen, vielleicht aber auch nicht.

Der Mond seht hoch am Himmel, voll und rund und totenbleich, als sich der Beobachter langsam wieder über der Geisterstadt sammelt. Zwischen den Häusern ist es unnatürlich still, nichts rührt sich. Auch das große silberne Auto vor dem Haus ist völlig ruhig. Das Haus selbst wirkt wie immer, neu, in tadellosem Zustand und von der Zeit unberührt, aber dennoch irgendwie tot. Unbewohnt. Und doch muß sich zumindest der Herr im weißen Anzug darin aufhalten. Nur eine Fußspur die auf das Haus zuführt ist im Sand vor der Veranda zu sehen. Wie magisch fühlt sich der Beobachter von dem Haus angezogen. Eines der Fenster im oberen Geschoß steht einen Spalt breit offen. Ein schwerer, dunkler Vorhang hindert das Licht daran, nach innen zu gelangen. Der Raum dahinter ist völlig dunkel. Obwohl die Zimmertür angelehnt ist fällt es dem Beobachter nicht schwer, durch diesen kleinen Spalt auf den Gang zu schlüpfen. Hier ist etwas mehr Licht, und man kann vage die gegenüberliegende Seite des Ganges erkennen. Hier zeichnen sich auf der linken und rechten Seite jeweils zwei Türen als vage Schemen ab. Direkt gegenüber der Tür jedoch führt eine Treppe mit hölzernem Geländer nach unten, in einen großen Salon. Unten ist es beinahe noch dunkler als hier oben.

Doch Licht braucht der Beobachter nicht. Weder um sich völlig sicher zu bewegen, noch um zu wissen, wo sich der einzige andere Besucher dieses Hauses befindet. Der Mann im weißen Anzug verrät sich schon alleine durch seine Nervosität. Seine Unsicherheit und Furcht ist genauso gut zu riechen, wie seine Körperwärme zu spüren ist. Er hockt gleich unten rechts neben der Treppe, hinter der Bar, da wo die Tür nach hinten in die Küche, und von da zum Hinterausgang führt. Auf irgend etwas scheint er zu warten. Immer wieder blitzt kurz die Beleuchtung der Armbanduhr an seiner Rechten auf, wenn er nervös nach der Zeit sieht.

Der Mann regt den Geist des Beobachters an, und er beginnt ernsthaft nach Gründen für dessen Anwesenheit in dem Haus zu suchen. Das hat er schon lange nicht mehr getan, lange schon hat er nicht mehr wirklich über etwas nachgedacht. Und mit jeder Minute, die er in Gedanken verbringt, wird er sich selbst bewußter. Er beginnt sich selbst wahrzunehmen, sich und die Dinge im Haus um sich herum. Doch mit jedem Teil von sich selbst, daß er wahrnimmt, fühlt er sich auch immer stärker in den Raum zurückgezogen, aus dem er gerade gekommen ist. Langsam gleitet er wider durch den Türspalt, hinein in beinahe völlige Dunkelheit. Dort steht an der linken Wand ein riesiges Himmelbett. Der Beobachter kennt dieses Bett genau, Licht hat er nicht nötig um es zu finden. Darauf stapeln sich viele, viele weiche Kissen und schwere Decken. Dieses Bett ist ganz frei von Staub, Motten oder sonstig en Verfallserscheinungen. Dieses Bett zieht den Beobachter an, scheint ihn sehnsüchtig zu rufen. Seit langen Jahren spürt er jetzt zuerst wieder diese unheimliche aber doch so süße Schwere. Die Schwere eines Körpers, der sich schon länger nach einem Bett sehnt, als er denken oder sich erinnern kann.

Malcom war das Warten leid. Er sah auf die Uhr an seinem Arm und mußte feststellen, daß kaum fünf Minuten vergangen waren, seit er zuletzt nach der Zeit gesehen hatte. Die Füße taten ihm vom langen Stehen in dieser dunklen Ecke nahe der Treppe weh, und der lange Tag auf der heißen Straße half ihm auch nicht besonders weiter. Schon mehrmals war er in Versuchung geraten, sich an den erstaunlich gut erhaltenen Spirituosen hinter der Bar zu versuchen. Überhaupt war alles in diesem Salon erstaunlich sauber, wenn man bedachte, daß - nach der Aussage des alten Mannes - hier schon seit beinahe sechzig Jahren niemand mehr hinkam. Kein Staub, kein Zerfall, nur die Fliegen. Und die hatte sich Malcom selber zu zuschreiben, so verschwitzt wie er war. Aber auch die waren vor ein paar Stunden verschwunden, und nun empfand Malcom seinen eigenen Körpergeruch als ziemlich störend an diesem Ort.

Alles war schon seit Stunden an Ort und Stelle, und er selbst war so gut vorbereitet wie er es nur je sein konnte. Immer wieder hatte er im Geist die Formeln aufgesagt und den Ablauf vor seinem geistigen Auge abspulen lassen. Alles würde nach Plan laufen, dessen war sich Malcom sicher. Jeder Fluchtweg war abgeschnitten, bis auf den einen, den er kontrollieren würde. Dann die Beschwörungsformel, die der alte Mann als völlig unfehlbar bezeichnet hatte... Und sollte alles das nichts nützen, so hatte er ja noch das Amulett und den Stab des alten Hexers...

Der Stab !

Beinahe wäre es Malcom lauthals entwischt, doch er konnte sich noch rechtzeitig bremsen, denn genau in diesem Moment hörte er aus dem oberen Stockwerk ein leises Geräusch, wie ein Seufzen. Der Stab und seine Schutzwirkung waren mit einem Augenblick völlig vergessen. In Malcoms Kopf hatte nur noch ein was Platz: der Ablauf, den er nun schon so lange geplant hatte.

Leise Pianomusik klingt durch den Salon. Bei der Tür steht ein Gentleman in weißem Anzug, der erwartungsvoll zu der Treppe sieht. Als er die Dame bemerkt, die etwas zögerlich die Treppe herab kommt, scheint sein Blick etwas überrascht. In dem schwachen Licht bei der Tür ist ein leichter Schimmer von Schweiß auf seiner Stirn zu sehen. Mit der Linken macht er der Dame eine einladende Geste, die Rechte hat er in seiner Anzugstasche. Als die Dame auf der Treppe etwas zögert, wird er deutlich nervöser. Die Pianomusik legt etwas an Lautstärke zu. Auf eine weitere einladende Geste des Gentlemans hin setzt sich die Dame wieder in seine Richtung in Bewegung. Als sie halb die Treppe herab gekommen ist, scheint der Mann erleichtert. Beherzt drückt er auf etwas in seiner Anzugstasche. Mit einem vernehmbaren "Plop" platzt hinter der Dame ein großer Behälter, und ergießt seinen Inhalt über die Stufen.

Die Dame dreht sich mit einem Ausruf der Überraschung um, setzt dann aber scheinbar unberührt ihren Weg nach unten fort, nun allerdings darum bemüht, nicht mit der Flüssigkeit in Kontakt zu kommen die von den Stufen tropft.

Diese ruhige Reaktion scheint nicht zu sein, was der Gentleman erwartet hat. Er wirkt ziemlich ratlos und noch nervöser als zuvor.

Um seine Fassung bemüht, trifft sein Blick ihre Augen und bleibt dort hängen. Sichtlich kehrt Ruhe in seine Haltung ein. Er steht nun beinahe entspannt, den Blick unverwandt auf ihre Augen gerichtet. Nichts anderes an ihr scheint er mehr wahrzunehmen, obwohl sie einiges an Reizen zu bieten hat.

Die Dame hat nun den Fuß der Treppe erreicht und durchquert den Salon, niemals den Augenkontakt brechend. Langsam, fast vorsichtig nähert sie sich ihm, zögert etwas, und legt dann ihre weißen Hände auf den Stoff seines Anzugs. Ihre Hände tasten über seine Brust, suchen seine Hände. Immer näher kommt sie an ihn heran, beginnt sich an seinen Körper zu schmiegen, während ihre Hände ständig weiter unaufhaltsam über den Stoff seines Anzuges gleiten, ihn erforschen. Immer bleibt der Blickkontakt ungebrochen. Völlig gebannt erwidert er ihren Blick, ohne auch nur zu zwinkern.

Ihre Hände liebkosen seinen Hals, streicheln seinen Nacken, dann - ein eine schnelle Bewegung und Geräusch als würde ein schweres Schmuckstück zu Boden fallen.

Ein erleichtertes Lächeln huscht über ihr Gesicht und sie läßt ihr Gesicht erschöpft an seinen Hals sinken. Auch er erwacht aus seinem Bann und erwidert erleichtert ihre Umarmung. Er vergräbt sein Gesicht in ihrem Haar als hätte er seine lang verloren geglaubte Liebe wiedergefunden.

"Komm, zeig mir den Weg!" sagt sie, und er führt sie zu seinem großen silbernen Wagen. Galant hilft er ihr hinein, und achtet darauf, daß ihr weißes Kleid nicht in der Tür eingeklemmt wird.

Der silberne Wagen fährt davon. Zurück bleiben nur einige ausgebrannte Ruinen einer Geisterstadt. Ein paar Eidechsen und andere Jäger der Nacht wundern sich über die plötzliche Abwesenheit aller Fliegen. Und über zwei wunderschön gearbeitete und sehr alte Gegenstände.

Der eine Gegenstand ist ein Amulett aus Silber. Es soll seinem Träger befähigen wahrhaft abscheuliche Dinge zu schauen, und dennoch bei Verstand zu bleiben. Das Amulet liegt jetzt nutzlos in der Asche eines vor Jahren schon ausgebrannten Salons.

Und der magische Stab, von dem behauptet wird, er könne den Besitzer sogar bei Verhandlungen mit dem Teufel persönlich mit der nötigen Ruhe und Klarsicht ausstatten liegt nun zerbrochen und nutzlos im Staub, begraben unter der Reifenspur eines Mercedes.

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Martin Spernau
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